Jeder Klub hat seine Kultfiguren. Vor dem letzten Saisonspiel bei Eintracht Frankfurt kommt eine der Legenden des kommenden SC-Auswärtsgegners zu Wort: Alexander Schur.
Herr Schur, gab es schon Interviews, in denen Sie nicht auf Ihr legendäres Tor vom 25. Mai 2003 angesprochen wurden?
Alexander Schur: (lacht) Wenn es um meine Vergangenheit geht, dann ist dieses Tor immer im Fokus. Kurz nach dem Karriereende hatte mich das echt genervt, weil ich das Gefühl hatte, nur auf dieses eine Spiel, auf dieses Tor reduziert zu werden. Dabei hatte ich mit der Eintracht ja auch viele andere tolle sportliche Höhepunkte erlebt, etwa den Aufstieg 1998 oder den umkämpften Klassenerhalt 1999/2000. Mit etwas mehr Distanz kann ich es aber besser verstehen, weil es den Fans einfach unglaublich viel bedeutet – schließlich war es für den gesamten Verein ein unvergessliches Erlebnis. Wenn Sie aber noch zu einem anderen Thema Fragen haben, gerne.
Na, dann machen wir doch zunächst noch einen kleinen Schwenk. Nach Ihrem Karriereende 2006 wurden Sie ein Jahr später Co-Trainer bei der U19, ab 2011 dann Cheftrainer. Haben Sie Erinnerungen an Aufeinandertreffen mit Christian Streich an der Seitenlinie, der ja bis Ende 2011 die U19 des Sport-Club trainierte?
Schur: Er war schon bei der U19 des SC ein Trainer-Urgestein, führte die Mannschaft seit 1995. Ich erinnere mich, dass er schon immer einen guten Draht zur Eintracht hatte, speziell zu Armin Kraaz und Holger Müller (Kraaz leitete lange Zeit das
Nachwuchsleistungszentrum, Müller war Nachwuchskoordinator, Anm.d.Red.). Laut den Erzählungen waren die Spiele gegen Freiburg in der Regel sehr emotionale Aufeinandertreffen, weil Christian Streich eben schon immer ein sehr leidenschaftlicher Trainer war, der sich völlig aufopfert für seinen Verein. Gott sei Dank sind wir uns persönlich nie an der Seitenlinie begegnet (lacht).
Wie waren Sie als Trainer?
Schur: Ich würde mich als ähnlich leidenschaftlich bezeichnen. Wenn du auf oder neben dem Platz stehst, befindest du dich in einem Tunnel. Du blendest das Äußere aus, weil du total auf die Mannschaft und das Spiel fokussiert bist. Du musst so vieles im Blick haben – und dabei vergisst du manchmal ein wenig dich selbst. Das führt dazu, dass man emotional bisweilen auch mal übers Ziel hinausschießt. Wenn ich im Nachgang von manchen Spielen Bilder von mir gesehen habe, wie ich etwa Schiedsrichter angegangen bin, war ich teilweise geschockt von mir selbst. Das Schöne mit Freiburg war immer: Trotz aller Emotionen im Spiel hatten wir nach Abpfiff stets ein sehr gutes und respektvolles Miteinander.
Die zweite Hälfte des Interviews wollen wir jetzt aber noch für jenes schon erwähnte legendäre Tor nutzen. Reisen wir zurück zum letzten Spieltag der Zweitligasaison 2002/03: Der SC Freiburg und der 1. FC Köln stehen bereits als Aufsteiger fest, um den dritten Platz, damals auch ein direkter Aufstiegsrang, kämpfen Frankfurt, Mainz 05 und Greuther Fürth.
Schur: Wir hatten gleich viele Punkte wie Mainz, das Torverhältnis war nur um ein Tor besser – viel spannender hätten die Voraussetzungen für den letzten Spieltag nicht sein können. Zur Halbzeit führen wir daheim 3:1 gegen den SSV Reutlingen, gleichzeitig liegt Mainz bei Eintracht Braunschweig mit 2:0 vorne. Nach der Pause sind wir ein wenig neben der Spur, auch weil wir stets auf das Ergebnis von Mainz schielen. Reutlingen gleicht aus, in Braunschweig steht es plötzlich 4:0 für Mainz – zu dem Zeitpunkt fehlen uns vier Treffer für den Aufstieg. Vier! Fast ein Ding der Unmöglichkeit.
Aber eben nur fast ...
Schur: ... Braunschweig schießt in der 80. Minute ein Tor, kurz darauf gehen wir durch Bakary Diakité 4:3 in Führung. Heißt: Auf einmal reichen zwei Tore. Es ist plötzlich wieder Hoffnung da, der Motor in der Mannschaft geht noch mal an, auch die Fans im Waldstadion sind wieder voll da.
Und dann kommt die Nachspielzeit.
Schur: Diakité trifft in der 90. Minute, drei Minuten später gibt es noch mal Eckstoß.
Die letzte Aktion des Spiels …
Schur: ... Jens Keller führt kurz aus auf Henning Bürger, der mir zuvor schon etliche Tore aufgelegt hatte. Seine Flanke kommt sehr gut in den Strafraum, bei mir muss nur noch das Timing stimmen, um ihn richtig zu drücken. Per Aufsetzer geht er dann ins Tor.
Und alle flippen aus – nur die Mainzer nicht, die schon zur Aufstiegsparty angesetzt hatten. Der damalige FSV-Spieler Christof Babatz sagte neulich im Heimspiel-Interview: „Das war sportlich gesehen das Bitterste, was ich in meiner Karriere erlebt habe.“
Schur: Und für Mainz tat es mir wirklich auch unglaublich leid. Dreimal in Folge hatten sie den Aufstieg knapp verpasst, das konnte nur bitter sein. Ich mochte Mainz: Jürgen Klopp war 1989 mein Mitspieler bei Rot-Weiss Frankfurt gewesen, Sandro Schwarz war beim Fußball-Lehrer-Lehrgang 2012/13 mein Zimmerkollege und ist ein sehr guter Freund, Christof Babatz wohnt heute in meiner Nachbarschaft, und mit Michael Thurk spiele ich in der Traditionsmannschaft von Eintracht Frankfurt. In Interviews betonte ich nach dem Aufstieg 2003 stets: Ich habe das Tor nicht gegen Mainz geschossen, sondern für Eintracht Frankfurt, für den Verein, für den ich immer alles gegeben habe.
Interview: Christian Engel
Dieser Text erschien erstmals in unserem Stadionmagazin "Heimspiel", das hier auch im Abo erhältlich ist.
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