Achim Stocker hat viel hergegeben für seinen SC Freiburg - und sich dabei das Wichtigste bewahren können. Ein Nachruf von Ulrich Fuchs.
Es war klar, dass am Ende noch einmal alles von Anfang an erzählt werden würde.
Wie Achim Stocker als Student aus Konstanz nach Freiburg kam, und als Kicker eher per Zufall beim SC landete. Wie er dann, 1972, im Alter von 37 Jahren erstmals und in Abwesenheit zum SC-Präsidenten gewählt wurde, und das dann weitere 37 Jahre lang blieb.
Eine unvorstellbar lange Zeit, die Achim Stocker nach dem Aufstieg des SC von der Amateur- in die Zweite Liga 1978 auch zum dienstältesten Präsidenten im deutschen Profifußball werden ließ.
All das wurde am Ende noch einmal erzählt und dazu natürlich, was es bedeutet hatte, gerade auch in den frühen Präsidentenjahren, die für den SC magere waren.
Amateurliga Südbaden, Zweite Liga, der ewige Kampf ums Überleben. Spieler verpflichten, Trainer feuern, immer zu wenig Geld. Die Nachtschichten für die Buchhaltung, die Brötchen schmieren für die Pressekonferenz. Immer die besten Kicker verkaufen, unzählige Wochenenden drangeben für die Suche nach Talenten. Für den Verein schuften bis zur Erschöpfung und danach keinen Schlaf mehr finden. In diesen Nächten getrieben von der Sorge mit dem Hund hinaus auf einsame Straßen – und tagsüber wieder vor potentiellen Geldgebern Männchen machen.
Diese Sätze über Achim Stocker habe ich im Sommer 1996 aufgeschrieben.
Für den SC war schon die bessere Zeit angebrochen, 1993 der erste Aufstieg in die Bundesliga geglückt, 1995 die erste UEFA-Cup-Qualifikation, und gerade bereitete man sich auf das vierte Bundesliga-Jahr in Folge vor. Achim Stocker und ich kannten uns da schon mehr als 10 Jahre lang, aber zum ersten Mal war ich für zwei Stunden mit ihm zusammen gesessen. Und es war, glaube ich, auch das erste Mal, dass ich diese Geschichten, von denen ich viele schon gehört oder gelesen hatte, auch ein bisschen verstanden habe.
Geschichten, von denen viele auch schon damals Geschichten aus einer anderen Fußballzeit waren und aus einer anderen Fußballwelt. Aber eben auch Geschichten mitten aus einem Fußballleben, mitten aus dem Leben von Achim Stocker. Als sie jetzt, am Ende dieses Fußballlebens, noch einmal erzählt wurden, gab es schon wieder viele, die sie noch gar nicht kannten, und erst mit ihnen erfahren haben, wer da eigentlich gegangen war. Und bestimmt gab es noch mehr, die viele dieser Geschichten zwar kannten, und sich trotzdem schwer taten, sie zu verstehen.
Aber gerade das will man ja immer: Verstehen was war und am besten so, dass es einen Sinn ergibt. Was bei Achim Stockers Geschichte wirklich nicht einfach ist. Und auch nicht war. Nicht einmal für ihn selber. „Außenstehende müssen denken, der ist bekloppt“, hat er (1996 zum ersten Mal und später in unterschiedlichen Varianten immer wieder) zu mir gesagt, „und irgendwie haben sie ja auch recht.“
Gewaltig beschleunigt hatte diese nachdenkliche Skepsis, dass Anfang der 90er Jahre etwas ganz und gar Merkwürdiges passierte. Achim Stocker, der, wie er selber sagte, „den Verein immer gepflegt hatte wie ein krankes Kind“, erlebte plötzlich mit, wie dieses Kind immer gesünder und größer und kräftiger wurde. Wie der SC dem FFC, der in Freiburg doch eigentlich immer der erste Verein am Platz gewesen war, den Rang ablief. Wie dieser SC, undenkbar eigentlich, Bundesliga spielte und, noch viel undenkbarer, sogar im UEFA-Cup.
Wie sich das Stadion dabei von einer herunter gekommenen Bruchbude, in die sich selten mehr als 2.000 Unentwegte verirrt hatten, in eine stimmungsvolle Arena verwandelte, in die am Ende 25.000 Zuschauer passten, und die bei Heimspielen trotzdem aus allen Nähten platzte. Weil dem SC in Freiburg und auch weit darüber hinaus plötzlich die Herzen zuflogen.
Achim Stocker erlebte, wie all diese wunderbaren Dinge passierten und machte dabei seine seltsame Entdeckung: Seine Sorgen blieben trotzdem. Er stand vor Mikrofonen und sagte Dinge wie: Ich hab noch nie so gut geschlafen wie im Moment. Oder: Mir ist es noch nie so gut gegangen, und dem Verein ja sowieso nicht.
Aber wenn man jenseits der Mikrofone mehr als zwei Sätze mit ihm sprach, erzählte er, wie er auch weiter von Ängsten getrieben war. Von Ängsten, die natürlich ein bisschen anders waren als früher, aber nicht wirklich kleinere oder weniger. Die wiederkehrenden Ängste, dass der Trainer gehen könnte und die immerwährenden vor dem nächsten Abstieg. Ängste, die alle in die eine große Angst mündeten: dass irgendwann die Leute wieder wegbleiben könnten und alles so werden würde, wie es früher war.
Der Reporter, der vor sechs Jahren aus Hamburg nach Südbaden gereist kam, als man plötzlich in ganz Deutschland anfing, vom Freiburger Fußball zu schwärmen, ließ sich trotz aller Euphorie nicht täuschen. Nachdem er den Sport-Club Präsidenten an seinem Arbeitsplatz bei der Oberfinanzdirektion besucht hatte, notierte er das Ergebnis seiner Gesichtsforschungen: „Ein unauffälliger Mann mit Kummerfalten auf der Halbglatze, mit großen Augen hinter einer großen Brille und einem Blick, traurig wie ein alter Elefant.“ Es ist danach kein schönerer Satz mehr über Achim Stocker geschrieben worden. Keiner, der so unaufgeregt und fast poetisch bis auf den Grund geschaut hat.
Das habe ich 1999 für eine Fußballgeschichte in einem Freiburg-Buch zum Jahrtausendwechsel geschrieben und dabei eine Reportage von Arno Luik aus dem ersten Aufstiegsjahr zitiert. Als wir uns kurz darauf über den Weg liefen, es war in der Geschäftsstelle des SC, wo sich eine halbe Stunde vor Spielbeginn die Menschen drängelten, rief Achim Stocker mir über all die Leute hinweg zu: „So traurig, wie Sie denken, bin ich gar nicht.“
Im eigentlichen Sinne traurig war er mir damals aber auch gar nicht erschienen. Auch wenn ich glaube, dass Achim Stocker mit dem Beginn der fetten SC-Jahre erst wirklich anfing zu spüren, wie viel er für den Sport-Club schon hergeben hatte von sich. Und: Wie viel er trotzdem und noch immer bereit war herzugeben, wenn er den Club damit nur davor bewahren könnte, dass die Zeiten wieder schlechtere würden. Immer mal wieder hat er diese Bereitschaft, sich zu opfern, in so fürchterliche Sätze gepackt wie:„Ich habe Demut gelernt, aufrecht gehen war nicht drin.“Sätze, die einem auch deshalb Angst machten ,weil man manchmal dachte, sie würden ihn selber schon nicht mehr erschrecken. Das stimmte aber nicht. Achim Stocker hat die größte aller Gefahren immer gefühlt und er hat sie immer wieder benannt und vielleicht auch gerade damit bannen können: Er hat viel geopfert, aber nicht seinen Stolz. Nicht den Stolz auf sich und nicht den Stolz auf seinen SC. Aber das hat Kraft gekostet: Unmengen von Kraft, als er für seinen Club buckeln und betteln musste.
Und jede Menge Kraft hat es dann noch einmal gebraucht, als die erfolgreichen Jahre anbrachen, und Achim Stocker spürte, dass auch dieser Erfolg zerstörerische Zentrifugalkräfte entwickelte, und wie sie wirkten. Wie etwa das Anspruchsdenken und die Erwartungshaltung wuchsen und im Verhältnis zu den realen Möglichkeiten in teilweise beträchtliche Schieflage gerieten – auch im Club selber, aber viel mehr noch um ihn herum.
Man hat es oft als Schrulligkeit ausgelegt, wenn er versuchte, den Laden im Kern zusammen zu halten, in dem, was er für sein Wesen hielt. Und die Legende gewordene Eine-Schreibmaschine-schießt-keine-Tore-Philosophie hat gelegentlich ja tatsächlich kauzige Formen angenommen. Bei Wutreden über Büromaterial-Rechnungen oder beim Widerstand gegen den ersten Pressesprecher und das erste Faxgerät. Aber wer den Kontext kannte, in dem sein pietistisches Maßhalten ausgeprägt wurde, und die Neigung der Branche zum genauen Gegenteil, der wusste und weiß bis heute: Die Wachsamkeit des Präsidenten hatte gute Gründe, selbst wenn sie immer mal wieder übers Ziel hinaus schoss, und er dabei sehr ungerecht werden konnte.
Und man weiß auch: Achim Stocker lebte dieses Maßhalten selber mit bemerkenswerter Konsequenz. Ob ein Dienstwagen für den SC-Präsidenten oder das Bundesverdienstkreuz – beides scheiterte an Stockers entschiedenem „Nein!“. Schaulaufen auf öffentlichen Veranstaltungen: kein Anschluss unter dieser Nummer. Kapriolen im Bundesliga-Zirkus der Eitelkeiten: Fehlanzeige. Dass er seine Haltung oft genug mit der Geste des undiplomatischen Poltergeistes zum Ausdruck brachte, hat Achim Stockers Glaubwürdigkeit dabei nur noch weiter befördert. Weil es untermauerte, dass er im durchgestylten Bundesliga-Betrieb ein Unikat war.
Und weil jeder, der es wissen wollte, wusste: Achim Stocker hat es ernst gemeint mit seinem SC Freiburg. So ernst, dass er, wie man weiß, (und was kann es für einen Fußballfan eigentlich schlimmeres geben?) schon lange die Spiele seines Herzensclubs nicht mehr live mit ansehen konnte. Und so ernst, dass ihm dieser SC Freiburg, dass ihm die Sache wichtiger war als er selbst. Schon das ist in Zeiten, in denen der Umkehrfall die Regel ist, weit mehr als eine Notiz am Rande.
Im Spätsommer 2009 war Achim Stocker zum ersten Mal nach all den Jahren bei mir im Büro zu Besuch. Wir setzten uns in den Garten und redeten über die alten Zeiten und die neuen und über die Zukunft – und zu meinem Erstaunen, und weil er damit anfing, über seine Nachfolge. Aus dem operativen Geschäft hatte er sich in den vergangenen Jahren ja immer weiter zurück genommen und trotzdem das Gefühl, dass die Verantwortung, die er für den SC empfand, zu schwer zu wiegen begann und die Nachfolge schnell und noch vor Ablauf der laufenden Amtsperiode geklärt werden sollte.
Ich habe dazu so unbeholfene Dinge gesagt wie: Ein bisschen müssen Sie jetzt aber schon noch durchhalten, so ganz kann der Verein, glaube ich, noch nicht auf Sie verzichten. Und das habe ich nicht nur so gesagt, sondern auch geglaubt, und Achim Stocker hat gequalmt und missmutig gebrummt wie eigentlich immer bei unseren Gesprächen und mich dabei aus vorwurfsvollen Augen angeschaut, als hätte ich ihn gerade zum weiter Präsident sein verurteilt.
Vor ein paar Wochen sind wir uns dann eines der letzten Male und wie unzählige Male davor bei einem Jugendspiel im Mösle begegnet. Achim Stocker hatte wie immer seinen Hund Tommie dabei und – das gab es eher selten – seinen Enkel Steven. „Fußballerisch ist er nicht schlecht“, hat er mir erzählt – das Herz des Fußballexperten wie meistens auf der Zunge – , „nur mit dem Kämpferischen hat er es nicht so, aber das braucht man heutzutage halt auch.“ „Umso schöner für ihn“, sagte ich, „dass er einen Opa hat, der auch das verstecktere Talent erkennen kann und liebt.“ „Hasch g’hört, was er g’sagt hat?“, sagte er zu dem Jungen und ehrlich, ich habe Achim Stocker in all den Jahren selten so strahlen sehen wie in diesem Moment.
Ein einziges Mal, in diesem unbewachten, persönlichen Augenblick, dachte ich später, hat er da meine Anerkennung und den Respekt für den großen alten Freiburger Fußballmann einfach annehmen können und seine unendliche Liebe für Fußball und den SC nicht hinter Zigarillorauchschwaden und seiner notorischen Knurrigkeit verstecken müssen. Daran musste ich noch einmal denken und dabei auch ein bisschen lächeln, während ich weinte, als der Sarg mit Achim Stocker aus dem Stadion getragen wurde.
„Achim Stocker hat unserem Verein sein Herz geschenkt“, hatte es ein paar Tage davor in der Todesnachricht des Vereins geheißen, „er wird in unseren Herzen immer seinen Platz behalten.“ Und am Ende der Trauerfeier erklang dann „You’ll never walk alone“ aus den Stadionlautsprechern. Zwei große Versprechen.
Ich wünsche Achim Stocker sehr, dass man sie halten kann. Und ich wünsche es seinem SC Freiburg.
Ulrich Fuchs hat als Fußballjournalist über viele Jahre hinweg immer wieder über den SC Freiburg und seinen Präsidenten geschrieben. Jetzt arbeitet er als Autor und Texter der Freiburger Agentur amici – und dabei auch für den Sport-Club Freiburg.