Parallel zum Strafraum statt "vorne rum"

Verein
03.09.2024

In der kleinen Taktikschule beschäftigt sich U17-Trainer Julian Wiedensohler mit dem Thema Distanzschüsse – und warum Weitschuss nicht gleich Weitschuss ist.

Wiedensohler: Da es risikoärmer und schneller zu automatisieren ist, lassen viele Nationaltrainer, die ja über eher wenig Trainingszeit verfügen, oft tiefer verteidigen als im Vergleich zum europäischen Topvereinsfußball. Das war auch bei der EM 2024 so. Fürs angreifende Team war es somit schwer, einen freien Mann in der Box zu finden. So waren Rückraumschüsse ein probates Offensivmittel.

Der Ex-Profi und TV-Experte Thomas Broich machte sogar einen allgemeinen Trend zu Distanzschüssen aus, den er auf Pep Guardiola, den Trainer von Manchester City, zurückführte. Obwohl Guardiola für extensiven Ballbesitzfußball steht, wurden bei City in der Saison 2023/24 tatsächlich stolze 34 Prozent der Torschüsse von außerhalb des Strafraumes abgegeben. Selbst wenn es City oft mit tief stehenden Gegnern zu tun hat: Verwundert das einen Experten nicht?

Wiedensohler: Jein. Allgemein werden Tore am häufigsten über die Halbräume im Strafraum vorbereitet. Dabei geht vor allem von Angreifern am ersten Pfosten eine große Gefahr aus, wenn die Vorlage zwischen den Verteidigern und der Grundlinie flach mit Effet durchgespielt wird. Auf diesen Vorne-rum-Ball, wie wir sagen, fokussierten sich die Defensivreihen stark, sodass man bei Man City plötzlich auch vermehrt hohe Anspiele auf den zweiten Pfosten, sowie flache Eingaben in den Rückraum sehen konnte. Nach solchen Flachpässen wurden nun auch bei der EM viele Tore erzielt, darunter nicht wenige von jenseits der Sechzehnerlinie, sodass man sie als Distanzschüsse wertete. Die Abschlüsse erfolgten dabei direkt oder nach höchstens einem Kontakt, zudem kontrolliert per Innenseite oder Innenspann flach ins kleine Netz ...

… also ins rechte oder linke Seitenteil des Tornetzes. Uns fällt da etwa Florian Wirtz’ 1:0 gegen Schottland ein.

Wiedensohler: Genau. Die Schotten standen massiert vor dem eigenen Tor, einlaufende deutsche Spieler hatten auch noch zusätzliche Gegner aus dem Rückraum tief mitgezogen. Statt direkt vor das Tor spielte Joshua Kimmich nun flach parallel zur Sechzehnerlinie nach innen, wo Wirtz von der Sechzehnerkante direkt und flach abschloss. Statt des Vollspanns nahm er dabei den Innenspann, der Kontrolle und Zielgenauigkeit begünstigt und aus 16 bis 20 Metern auch allemal genügend Schärfe ermöglicht – erst recht mit den heute technologisch optimierten Bällen.

Das Muster ist also: Statt des Vorne-rum-Balls, den der Gegner primär erwartet, kommt der Pass in den tendenziell offeneren Zwischen- oder Rückraum, von wo dann kontrolliert und flach – gleichsam chirurgisch – das kleine Netz anvisiert wird?

Wiedensohler: Die vielen Spieler in der Box beeinträchtigen zusätzlich das Sichtfeld des Torwarts, der sich zudem beim Flachpass nach innen zur Mitte mitbewegen muss: Ein Abschluss ins kurze Eck geht dann also gegen seine Laufrichtung. Ein Schuss aufs lange Eck droht außerhalb seiner Reichweite zu verlaufen – beides schwierig für den Keeper. Das skizzierte Spielmuster lag bei der EM im Trend, nicht unbedingt Fernschüsse per se. Die Torabschlüsse kommen dabei zwar mitunter von außerhalb der Box, sind für mich aber keine klassischen, eher verkappte Fernschüsse.

Verglichen mit abenteuerlichen 30-Meter-Sonntagsschüssen, an die man beim Thema Weitschuss gerne denkt, sind die von ihnen skizzierten Abschlüsse eher unscheinbar. Was ist mit Fernschusstoren aus 18 bis 25 Metern nach kurzem Dribbling von außen nach innen?

Wiedensohler: Als vielfach trainierte Einzelaktionen sind solche Abschlüsse geplant und gewollt und für mich nicht zu den Sonntagsschüssen zu zählen.

Richtige Sonntagsschüsse finden extrem selten den Weg ins Tor: Zieht ein Spieler aus 25 oder 30 Metern einfach mal ab, liegt die Torerfolgsquote nur bei rund zwei Prozent. Fegt so ein Schuss übers Fangnetz, rufen TV-Reporter dennoch gern: Warum nicht!?

Wiedensohler: Solche Fernschüsse – ob aus Übermut oder Verzweiflung – sehen Trainer dann doch meistens etwas kritischer.

Interview: Timo Tabery und Uli Fuchs

Foto: Imago Images

Dieser Text erschien erstmals in unserem Stadionmagazin "Heimspiel", das hier auch im Abo erhältlich ist.

 
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