In der kleinen Taktikschule, die im Stadionmagazin "Heimspiel" erscheint, erklärt U19-Trainer Julian Wiedensohler dieses Mal Muster, mit denen bei knappem Rückstand oder Vorsprung in der sogenannten Crunchtime agiert werden kann - und wie am Ende Leverkusen gewinnt.
Herr Wiedensohler, übt man als Trainer mit seinen Spielern, was man bei knappem Rückstand in der Schlussphase eines Spiels tut, um mit aller Kraft noch den Ausgleich zu schaffen?
Wiedensohler: Ja. Wie du die Herangehensweise dann gegebenenfalls anpassen willst, solltest du thematisieren, damit die Jungs vorbereitet sind. Dabei sind aus meiner Sicht drei Schlagworte zentral wichtig: Frequenz, Qualität und Quantität. Unter Zeit- und Ergebnisdruck gilt es, mit hoher Frequenz, also möglichst oft, qualitativ gute Bälle in die gegnerische Box zu spielen und diese mit quantitativ vielen Spielern zu besetzen. Konkret ist unser Plan, von hinten immer wieder diagonale Flugbälle in die seitlich äußeren Bereiche der Box zu schlagen, wo kopfballstarke Zielspieler mit Zug quer vors Tor köpfen sollen. Dort drückt einer der nachrückenden Spieler den Ball dann idealerweise ins Tor.
Eine simple, für den Gegner aber extrem unangenehme Strategie. Nur warum schlägt man den Flugball nicht direkt zentral vors Tor?
Wiedensohler: So ein Anspiel kann ein Stürmer, zentral an der Sechzehnerkante und mit dem Rücken zum Tor stehend, kaum gefährlich aufs Tor verlängern. Gerät der Flugball etwas zu lang, fängt ihn zudem der Torwart ab.
Um für Quantität vor dem gegnerischen Tor zu sorgen, wechseln Trainer oft zusätzliche Stürmer ein und schicken große Verteidiger nach vorn. Wirft ein Trainer in diesen Situationen quasi jede taktische Ordnung über Bord?
Wiedensohler: Besser nicht. Zumindest sollte man das nicht zu früh tun. Für die letzten circa zehn Minuten wäre stattdessen etwa eine Struktur mit drei Stürmern denkbar. Die äußeren, im Bild die 11 und 7, müssen kopfballstark sein, der zentrale Neuner eher ein Abschlussspieler. Die Außenverteidiger und Achter rücken vor, um zweite Bälle zu erobern, erneut die Box zu füttern oder selbst torgefährlich nachzustoßen. In dieser sicher risikobereiten Staffelung bilden somit drei Spieler eine immerhin noch relativ stabile Restverteidigung. Sie haben zudem die Aufgabe – womöglich nach zwei, drei vorbereitenden Flachpässen – immer wieder gute Diagonalbälle in die Zielflächen zu spielen. So hast du eine gute Struktur, um viele Aktionen in und an der Box herbeizuführen, Freistöße und Eckbälle zu bekommen und dem Gegner eine wilde, stressige Schlussphase zu bereiten.
Kann man Spieler im Training auf den Crunchtime-Stress vorbereiten?
Wiedensohler: Im U19-Training haben wir dazu Elf-gegen-Elf gespielt mit der Vorgabe: „87. Minute, ihr liegt 0:1 hinten und habt noch sechs Minuten fürs Ausgleichstor, wir spielen um eine Woche Materialdienst.“ Der ist bei den Jungs sehr unbeliebt. Durch die vorige Trainingsbelastung hatten sie schon etwas erhöhten Puls, dann triffst du als Schiri vielleicht noch eine strittige Entscheidung, sodass Emotionen aufkommen. So können die Jungs eine dem Original-Setting zumindest ähnliche Situation durchspielen und erleben.
Kehren wir die Sache noch um: Wie bringt man als in Führung liegendes Team den Vorsprung über die letzten Minuten?
Wiedensohler: Stärkt der Gegner nun den Angriff, wirst du als Trainer zunächst dafür sorgen, hinten möglichst Überzahl zu wahren und zum Beispiel auf ein 5:4:1 umstellen. Ideal wäre dann natürlich, das Spiel über eigenen Ballbesitz zu kontrollieren, was aber eher nur Top-Teams gelingt. Im Allgemeinen sollte das führende Team in der Crunchtime seine Abwehrkette nicht bis zur eigenen Box zurückdrängen lassen, Zweikämpfe entschlossen führen, wann immer möglich den Rhythmus des Gegners brechen, clever Standards herausholen …
… oder das spielentscheidende Kontertor machen.
Wiedensohler: Insgesamt geht es in der Crunchtime viel um Psychologie: Überzeugung, Haltung, Ausstrahlung, Mentalität. Die Gefahr, eine Führung zu verspielen, kann dich hemmen, ein lautes Publikum die Psychodynamik zusätzlich befeuern. Extrem hilfreich ist für ein Team dann das Erfahrungswissen, solche Situationen schon oft gemeistert zu haben. In der letzten Saison gelang es etwa Bayer Leverkusen regelmäßig, Spiele spät noch zu drehen. Die Leverkusener erzeugten dabei enormen Druck – allerdings ohne ihre Spielmuster grundlegend zu ändern.
Interview: Timo Tabery und Uli Fuchs
Dieser Text erschien erstmals in unserem Stadionmagazin "Heimspiel", das hier auch im Abo erhältlich ist.